ShuHaRi stammt aus den asiatischen Kampfkünsten und ist der japanische Begriff für die Entwicklung beim Lernen von Budo/Aikido. Gunter Dueck hat das in einer seiner Kolumnen einmal sehr schön auf den Punkt gebracht:

ShuHaRi„In der japanischen Kampfkunst gibt es drei Stufen des Lernens. Shu ist wie ‚gehorche’ – alles wird genau nach Rezept oder ‚Prozess’ ausgeführt und bis zu absoluter Fehlerfreiheit eingeübt. Ha steht für ‚probiere’ – man weicht von der Lehre ab, sammelt Erfahrungen durch Variation und versteht langsam die Kunst an sich. Ri bedeutet ‚verlasse’ – der Meister löst sich von den Formen, den Lehren und Stilen seiner Vorbilder und vollendet sich.“ [Dueck1]

Denkt man an das Lernen asiatischer Kampfkunst, so sieht man oft Filmszenen vor seinem inneren Auge, in denen Karate-Schüler synchron immer wieder unter lauten Rufen einzelne Bewegungsabläufe üben. Lässt sich da eine Verbindung zu Scrum und zur Produktentwicklung herstellen?
Das Bild der trainierenden Schüler ist gar nicht schlecht. In diesen Szenen üben sie stets einen isolierten Bewegungsablauf streng nach den Regeln ihres Meisters, bis er perfekt sitzt. Erst dann dürfen sie eigene Variationen versuchen und einige dieser Schüler werden es am Ende zu wahrer Meisterschaft bringen. Im Handwerk gibt es ein dem ShuHaRi vergleichbares dreistufiges Rollenmodell: Lehrling – Geselle – Meister.
Diese drei Stufen können auf jeden Lernprozess angewendet werden, auch auf die Einführung agiler Vorgehensmodelle wie Scrum.

Um das noch etwas zu verdeutlichen, kann man, wie Gunter Dueck das an anderer Stelle [Dueck2] einmal getan hat, sich vorstellen, wie man lernt, Tomatensuppe zu kochen. Alles beginnt auf Tütensuppen-Niveau. Das ist Shu. Man hält sich streng an die Regeln, die auf der Rückseite der Tüte stehen, misst sorgsam das Wasser ab, achtet auf die richtige Temperatur, rührt regelmäßig um, kocht kurz auf, … und löffelt am Ende das aus, was die Regeln hergeben. Immerhin schmeckt es dann immer wieder gleich. Im nächsten Schritt beginnt man zu variieren. Das ist Ha. Da soll es am Ende wirklich schmecken. Man verfeinert mit Sahne. Gibt vielleicht klein gewürfelte frische Tomaten und frisches Basilikum hinzu, überstreut die Suppe mit fein gehackter Petersilie, … Voraussetzung ist, dass man vorher das Rezept verstanden und seine Regeln erlernt und befolgt hat. Hat man wahre Meisterschaft, das Ri, erlangt, dann interessieren weder Rezepte noch Regeln. Man hat sie verinnerlicht und löst sich von ihnen. Die Suppe wird zur eigenen Kreation, sie trägt eine unverwechselbare Handschrift, sie ist ein wahres Meisterwerk.

Auch bei der Einführung von Scrum kommt es darauf an, dass man als ‚Lehrling’ erst einmal streng nach den Regeln trainiert (Shu). Erst wenn man verstanden hat, wie das Vorgehen gemäß der Regeln funktioniert und man diese kennt und anerkennt, kann man beginnen, sie zu variieren (Ha). Dann entsteht Stück für Stück ein Prozess, der auf die konkrete Situation, auf den konkreten Kontext zugeschnitten ist. Am Ende hat man als Team das neue Vorgehen und seine Regeln derart verinnerlicht, dass man sie lebt, ohne sich ihrer bewusst zu werden. Man hat zu seinem eigenen Stil gefunden und kann sich ändernden Kontexten mühelos anpassen (Ri).

Am Anfang, in der Shu-Phase, braucht ein Scrum-Team einen strengen Experten für das neue Vorgehen, der nahezu dogmatisch über die Einhaltung der Regeln wacht. Mit seiner ganzen Autorität lehrt er, wie man dem neuen Prozess folgen und ihn zu seinem eigenen Vorteil einsetzen kann.

Je weiter ein Team in seiner Entwicklung voranschreitet, desto seltener braucht es konkrete Handlungsanweisungen. Es hat gelernt, die Regeln anzupassen und wenn nötig zu brechen und bewegt sich abhängig von den Erfordernissen zwischen den drei Phasen des ShuHaRi hin und her. In Retrospektiven werden die Regeln überprüft und variiert (Ha), das angestrebte neue Verhalten wird trainiert (Shu) und am Ende geht es in das Selbstverständnis über, man braucht nicht mehr darüber nachzudenken (Ri).

Und … auf welcher Stufe seid ihr?
Tütensuppe? … Meisterwerk? … Irgendwo dazwischen?
Und was könnte der nächste mögliche Schritt sein?

Literatur:
[Dueck1] Gunter Dueck, Shuhari, Columne „Wild Duck“; http://innovisions.de/beitraege/shuhari/
[Dueck2] Gunter Dueck, Professionelle Intelligenz; http://vimeo.com/32837984

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