Ein Plädoyer für haptische agile Tools

In dem Maße, in dem sich agile Vorgehensweisen mehr und mehr durchsetzen, steigt auch die Zahl der elektronischen Tools, die Scrum, Kanban und Co. ‚optimal’ unterstützen. Nichts scheint unmöglich: Virtuelle Boards mit verschiebbaren Karten in Swimlanes mit Serviceklassen und WiP-Limits und und und … Da geht die Scrum-Implementerung oder die Kanban-Einführung eigentlich doch ganz von selbst. Nicht mehr viel nachdenken, nur noch Tool kaufen und loslegen, denn der Erfolg ist ja dort schon mit eingebaut, oder?

Als ich zum ersten Mal mit einem Team Scrum einführte, glaubte ich, das ginge wirklich so. Ich hatte viel Zeit in die Suche nach einem geeigneten Tool investiert, das den Prozess optimal unterstützen würde. Man konnte Benutzer und mehrere Projekte verwalten, ein schönes Backlog aufbauen, Tags vergeben, Label anhängen, Impediments verwalten und bei der Planung die Stories einfach in den Sprint ziehen, dort verschieben, schätzen, ein Sprintziel hinterlegen, … Für die tägliche Benutzung durch das Team gab es zusätzlich ein Web-Frontend und – das beste – das BurnDown-Diagramm entstand – wie von Geisterhand – ganz nebenbei! Faszinierend!

Pappe macht SpassAnfangs lief das auch ganz toll, ich hatte offenbar gut gewählt. Doch nach und nach spürte ich, dass wir uns immer häufiger in Diskussionen darüber verstrickten, wie man denn dieses oder jenes am bestem im Tool abbilden könne, statt es einfach zu tun. Unmerklich drängte sich das Tool in unseren Fokus, der doch ganz und gar unseren Aufgaben im Sprint gehören sollte. Irgendetwas stimmte da nicht. Brauchen wir ein neues, ein anderes Tool? Eins, dass besser zu unserem heutigen Kenntnisstand passt? Aber was, wenn sich unser Prozess durch kontinuierliche Verbesserung immer weiterentwickelt? Aller halbe Jahr ein anderes Tool? Das konnte es nicht sein. Und so entdeckten wir für uns das einzige Tool wieder, das problemlos mitwächst: Taskboard, Pappe, Stifte und Pins. – Warum?

11 gute Gründe für Pin und Pappe

1 Das Board ist omnipräsent. Keiner kommt daran vorbei. Es steht mitten im Team-Raum und jeder kann es zu jeder Zeit sehen, ohne erst mit drei bis sieben Klicks eine Anwendung starten zu müssen. Man kann sich auch ganz einfach davor treffen, mit einem Pott Kaffee in der Hand (ja, das geht auch mit Tee), und sich abstimmen.

2 Eine Aufgabe übernehmen wird sicht- und erlebbar! Haptik statt Mausklick. Man hat die Sache jetzt wahrlich ‚in die Hand genommen’. Damit entsteht fast von selbst ein gewisses Maß an Verpflichtung und Verbindlichkeit.

3 Pappe ist transparent, auch wenn man es nicht glaubt. Hat sich an einer eingeplanten User Story (entgegen der reinen Lehre) doch noch etwas geändert, so ist das spätestens beim nächsten Daily Scrum für jeden sichtbar. Denn – da hat sich was verändert am Board!

4 Pappe ist flexibel: Wir planen ein kleines Experiment und wollen für die Dauer eines oder mehrerer Sprints unseren Prozess um einen zusätzlichen Schritt erweitern oder verkürzen. Kein Problem. Taskboard angepasst und los geht es.

5 Oder: Wir wollen Abhängigkeiten bzw. Verknüpfungen visualisieren. Los geht’s. Eine auffällige Markierung auf der Task-Karte angebracht, z.B. ein grellfarbiges PostIt mit einer kurzen Notiz, und schon ist es für alle deutlich sichtbar.

6 Noch ein Experiment: Wir wollen für einen begrenzten Zeitraum markieren, wer gerade an welcher Aufgabe arbeitet. Keine Hürde! Wir erweitern unser Tool dafür z.B. um ein paar Büroklammern und kleine Schnipsel Pappe mit unseren Initialen. Beim Daily Scrum dann Task ziehen, Initialen mit Büroklammer dran befestigen und fertig. Super Nebeneffekt: ‚Jeder nur einen Task!’ wird damit zum Kinderspiel!

7 Am Board merkt man sofort, wenn sich das Push-Prinzip wieder zurückmeldet. In einem Tool kann man schnell mal ein paar Tasks markieren – Klappliste ‚Verantwortlicher’ – anklicken – speichern – fertig – Aufgaben zugeteilt. Und keiner hast’s gemerkt! Am Taskboard hingegen ist der ‚Pusher’ schnell enttarnt.

8 Wie geht es unserem aktuellen Sprint? Arbeiten wir fokussiert an den aktuell wichtigsten Aufgaben? Oder lassen wir uns vielleicht ablenken und haben zu viele Aufgaben gleichzeitig in Bearbeitung? Ein kurzer Blick aufs Board und wir sind im Bilde. Und da es jeder sofort sehen kann, ist es nicht schwer, darauf zu reagieren.

9 So ein Backlog aus Pappe ist auch was Feines. Man kann es einfach mitnehmen, jederzeit auf den Tisch legen, jede Anforderung einzeln in die Hand nehmen und fokussiert daran arbeiten. Beim Erarbeiten und Aufschreiben einer User Story muss man nicht erst lange überlegen, in welche Kategorie oder Hierarchie sie einzuordnen ist, ob man das eine oder andere Web-Formular nimmt, ob es nun eher noch ein Epic oder doch schon eine Story ist, ob man den Web- oder Fett-Client startet usw. usf. Man greift einfach einen Stift und ein Stück Pappe (vielleicht eine Holisticon-Story Card) und schon ist man bereit und voll bei der Sache. Der Fokus bleibt beim WAS.

10 Schätzen, Planen, … alles wird fokussierter. Eigentlich muss keiner mehr sein Notebook mitbringen und mit einem Beamer etwas an die Wand werfen. Alle Karten liegen auf dem Tisch – die Story Cards, die Karten fürs Schätzpoker, die Kärtchen für die Tasks – keine Medienbrüche, volle Fokussierung. Man kann die zu schätzende oder zu planende Story auch mal rumreichen, sie in die Hand nehmen und abwägen (im Sinne von wiegen), wie viel das Thema wert oder ob es noch zu schaffen ist.

11 Und auch ein aussagekräftiges Reporting ist leicht erstellt. Mit Flipchart-Papier und Stiften lässt sich ganz einfach ein BurnDown–Diagramm zeichnen und jeden Tag aktualisieren. Ja sicher, so ein ganz spezielles Tool, das kann natürlich noch viel mehr und viel schöner und … aber mal ehrlich: So viel wie nötig und so wenig wie möglich, oder? Erinnern wir uns ruhig mal wieder an KISS – Keep It Simple, Stupid!

Nun gibt es auch Kontexte, in denen elektronische Tools unverzichtbar sind. Denken wir nur an die Arbeit von Teams, die über mehrere Standorte verteilt sind. Klar wird man da nicht um Tool- Unterstützung herumkommen, um sich abzugleichen und die Daten allen gleichermaßen zugänglich zu machen. Dennoch sollte für die konkrete Arbeit ein Taskboard eingesetzt und der Mehraufwand in Kauf genommen werden, der für das Nachpflegen der Änderungen anfällt. Auch das oben beschriebene Backlog in Pappe gibt es dann sicher noch einmal in elektronischer Form. Wichtig ist nur, dass die Pappe führt!

Deshalb, so meine Erfahrung: Wo immer es geht, mit einfachsten Mittel starten und die eigentliche Aufgabe im Blick behalten! Und warum nicht erst einmal im haptischen Sinne eine Anforderung ‚begreifen’, um sie inhaltlich begreifen zu können?

Also: Haptik statt Maus-Klick!, denn nicht umsonst sagt man: ‚Packen wir’s an!

Auch veröffentlicht auf www.holisticon.de