Gleich bei uns um die Ecke betreibt seit zwanzig Jahren ein wahrer Zauberer ein italienisches Restaurant. Wir gehen regelmäßig dort hin und lassen uns entführen auf eine kurze Reise nach Italien. Wir nehmen eine kleine Auszeit mit wundervollem Wein, leckerer hausgemachter Pasta und erliegen der Magie des Ortes, die durch den Wirt, nennen wir ihn einfach Luigi, erschaffen wird.

Das Restaurant ist klein und überschaubar. Insgesamt gibt es sieben und einen halben Tisch. Und die Atmosphäre ist sehr persönlich. Man hat als Gast das Gefühl, zur Familie zu gehören – als säße man im Wohnzimmer des Gastgebers. Und Luigi hat wirklich eine Gabe. Seine Fröhlichkeit ist ansteckend. Er beherrscht den Gastraum mit seiner Präsenz, er scherzt, erzählt Geschichten und zaubert ein Lächeln auf jedes Gesicht. Egal wie müde, wie gestresst oder kaputt man ankommt – binnen kurzer Zeit ist man verzaubert und schmunzelt. Manchmal glaube ich, er hat einen siebten Sinn und spürt, was jeder Einzelne gerade braucht.

TagliariniAn dem Abend, um den es mir in dieser kleinen Geschichte geht, passierte etwas, das ich bemerkenswert fand. Es war Freitag und alle Tische bis auf einen besetzt. Der Koch war unerwartet ausgefallen und deshalb hatte Luigi selbst viel in der Küche zu tun. Und obwohl seine Frau sich alle Mühe gab die Lücke zu füllen, war doch zu spüren, wie sehr er an diesem Abend im Gastraum fehlte und in welchem Maße die Atmosphäre im Restaurant von seiner Anwesenheit lebt. Es blieb keine Zeit, Geschichten zu erzählen, mal wieder mit einer Eros Ramazotti-CD die Lautstärke der Audio-Anlage zu checken oder gar die Pasta-Gitarre zu spielen. Er hatte alle Hände voll zu tun, Essen zuzubereiten, zu servieren und seinen Gästen ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit zu schenken. Da öffnete sich die Tür und es kamen noch zwei neue Gäste herein. Und obwohl einer der Tische frei war, schickte er sie mit der Bemerkung, der Tisch sei reserviert, wieder weg.
Warum?

Ich denke, ihm war klar, dass die neuen Gäste zusätzliche Aufmerksamkeit gefordert hätten, die er unter den gegeben Umständen nicht mehr aufbringen konnte. So verzichtete er bewusst auf zusätzlichen Umsatz, um seinen aktuellen Gästen keine weitere Aufmerksamkeit zu entziehen.

Oder anders ausgedrückt: Der aktuelle Engpass in der Küche veranlasste ihn, sein WiP (Work in Progress) stärker als gewöhnlich zu beschränken und so dafür zu sorgen, dass er fokussiert bleiben und noch akzeptable Durchlaufzeiten der Bestellungen realisieren kann. Ich glaube nicht, dass er Little’s Law, wonach die Durchlaufzeit eines Prozesses durch den Quotienten von WiP und Durchsatz bestimmt wird, explizit kennt. Aber seine lange Erfahrung und sein gesunder Menschenverstand haben ihm die richtige Entscheidung eingegeben. Und er hat Größe bewiesen, indem er die Zufriedenheit seiner aktuellen Gäste über zusätzlichen Umsatz stellte.

Und nun frage ich mich: Wie oft gelingt es mir in meinem Projektalltag, der Versuchung zu widerstehen, die n+1te Aufgabe auch noch zu übernehmen, obwohl ich eigentlich schon gut ausgelastet bin? Bleibe ich in vergleichbaren Situationen auch standhaft und fokussiert oder lasse ich mich verführen und denke: Wird so schlimm nicht werden – das kriege ich auch noch hin.

Dieser Abend hat mich auf jeden Fall noch einmal dafür sensibilisiert, immer wieder zu hinterfragen, ob ich mich gerade auf das zum aktuellen Zeitpunkt Wesentliche konzentriere. Und er lieferte ein gutes Beispiel dafür, wie viel von agilem Herangehen einfach nur gelebter gesunder Menschenverstand ist.

Foto: © robertz65; http://www.sxc.hu/photo/1259942
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